Für Finnlandbegeisterte, die zugleich The Lord of the Rings lieben, ist es immer wieder ein kleiner Grund zur Freude, dass Tolkiens Begeisterung für Mythen und Sagen einen wichtigen Anstoß im Kalevala fand. Wie genau Tolkien sich auf das Kalevala bezog, blieb bisher aber immer etwas im Vagen.
Mit einer neuen Welle von Publikationen zu Tolkiens Werk – so ist beispielsweise letztes Jahr auch eine sehr schöne Ausgabe rund um die Geschichte von Beren und Lúthien erschienen – ist nun auch Die Geschichte von Kullervo und damit das Bindeglied zwischen Tolkiens Kalevala-Lektüre und seinen eigenen Arbeiten endlich und zum ersten Mal veröffentlicht.
In einem einleitenden Aufsatz führt die Herausgeberin Verlyn Flieger, Universitätsprofessorin für englische Literatur, zunächst in das Thema ein, indem sie die Entstehungsgeschichte des Kalevala kurz anreißt und auf Tolkiens eigenes Leseerlebnis hinführt.
Der junge Student hatte das Kalevala 1911 zunächst in Kirbys Übersetzung ins Englische rezipiert, war aber so begeistert von dem Stoff, dass er sich eine finnische Grammatik auslieh und versuchte, sich im Selbststudium so viel Finnisch beizubringen, dass er das Original studieren konnte. Zugleich reifte die Idee einer eigenen Adaption der hier vorgestellten Figuren heran.
Allen voran hatte es Tolkien die Figur des Kullervo angetan und so erzählt er die Geschichte des Verwandtenmordes und Inzests ganz neu. Diese Nacherzählung bildet den Kern des vorliegenden Buches. Besonders dankbar kann man dem Verlag hier sein, dass er sich für eine zweisprachige Adaption erschienen hat, so dass englisches Original und deutsche Übersetzung (sehr gelungen durch Joachim Kalka) offen nebeneinander liegen.
Zusätzlich zu der Nacherzählung des dramatischen Stoffes, die deutlich macht, wie Tolkien einerseits den Geschichten etwas mehr Tiefe gibt, kleine logische Fehler, die aus dem Zusammenhängen der verschiedenen gesammelten Lieder im Kalevala entstehen, ausbügelt, andererseits aber (und das ist für Tolkien-Fans das eigentlich Spannende) nach und nach Namen verändert. Mit vorsichtigen Schritten folgen wir hier dem Autor von einer reinen Nacherzählung hin zu einer eigenständigen Geschichte, die im Silmarillion münden wird.
Angeschlossen an die Geschichte des Kullervo sind außerdem zwei Vorträge Tolkiens über das Kalevala, die er im universitären Kontext hielt, und die viel über seinen Blick auf das Epos verraten. Alle Textteile sind mit Anmerkungen versehen, die beim tieferen Verständnis beispielsweise der Entwicklung von Namen helfen und zudem Tolkiens Umgang mit dem Finnischen noch näher erläutern. Abschließend fasst Verlyn Flieger noch einmal Tolkiens Begeisterung für das Kalevala zusammen und erläutert tiefergehend die Bezüge zwischen mythischer Vorlage und Tolkiens Weg zur eigenen Mythologie.
Die Geschichte von Kullervo ist eine wirklich schöne Ausgabe mit zahlreichen Informationen und Querverweisen für Kalevala-Fans, die mehr über die Rezeption des Epos erfahren möchten, genauso spannend wie für Fantasy-Begeisterte, die sich für die Entstehung ihrer Lieblingstrilogie interessieren. Absolut empfehlenswert!
J. R. R. Tolkien: Die Geschichte von Kullervo. Herausgegeben von Verlyn Flieger. Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Stuttgart: Klett Cotta 2018. ISBN: 978-3-608-96090-7. 22 Euro.
Eine Rezension in der Deutsch-Finnischen Rundschau 176 von Saskia Geisler.
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