Warum sich mit den finnischen Dialekten beschäftigen? Gibt es die denn noch? Überhaupt, so fragt sich vielleicht, wer Finnisch lernt, reicht es nicht schon, die zahlreichen Regeln der Standardsprache im Kopf behalten zu müssen? Die finnischen Dialekte sind in der Tat ein umfassendes Feld, vor dessen Formenreichtum und Forschungsgeschichte Nicht-Dialektologen erst einmal ratlos stehen. Im Dickicht von Gemination, Stufenwechselvarianten und geöffneten Diphthongen verliert man schnell den Überblick. Doch um solche kleinteiligen Merkmale soll es hier auch gar nicht gehen. Die finnischen Dialekte, das ist nämlich auch lebendige Sprachgeschichte, die ihre Spuren im Finnischen der Gegenwart hinterlassen und sich einen Platz in der Kulturlandschaft erobert hat. Begeben wir uns also auf ihre Spuren.
Die magische Sieben
Die finnischen Dialekte teilen sich in sieben große Gebiete auf, die noch heute die Basis für dialektologische Untersuchungen bieten. Im Uhrzeigersinn sind das die Peräpohjola-Dialekte in Lappland, Tornedalen und Finnmark, die Savo-Dialekte, die südostfinnische Dialekte in Südkarelien, die Häme-Dialekte, die südwestfinnische Dialekte in Varsinais-Suomi und Satakunta, die südösterbottnischen Dialekte sowie die mittel- und nordösterbottnische Dialekte. Ermittelt wurden diese Gebiete in mühevoller Kleinarbeit. Die Dialektforscher, oft Studierendre von der Universität in Helsinki, reisten im 19. und 20. Jahrhundert durch die finnischen Kirchspiele und dokumentierten die Sprache, die dort gesprochen wurde. Dabei notierten sie sich lautliche und morphologische Varianten verschiedener Gebiete, verglichen diese untereinander und fassten so einzelne Orte zu größeren Dialektgebieten zusammen. Diese Gebiete lassen sich noch heute anhand von sogenannten Dialektkarten nachvollziehen. Der schnelle gesellschaftliche und technologische Wandel der letzten 120 Jahre hat allerdings auch die Dialektlandschaft Finnlands so stark verändert, dass die alten Dialekte in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr existieren.
Sprache, Dialekt und Landesgrenzen
Wer von den Dialekten einer Sprache spricht, tut das meist mit einer gewissen Selbstverständlichkeit. Dabei ist die Frage, ob eine bestimmte Varietät als Dialekt und damit Unterform einer Sprache oder als eigene Sprache gewertet wird, mitunter gar nicht so einfach zu beantworten. Sprachwissenschaftler fragen zur Unterscheidung meist nach Merkmalen in der Grammatik und der Möglichkeit der Sprechergruppen, sich untereinander zu verständigen. In der Praxis entscheiden jedoch oft politische Überlegungen über den Status einer Sprachform und damit auch ihrer Sprechergemeinschaft – man denke nur an die festlandskandinavischen Sprachen, die trotz ihrer weitgehenden Gemeinsamkeiten und der zwischen ihnen herrschenden Semikommunikation als eigene Sprachen betrachtet werden. Ein interessanter Fall ist auch das im Tornedalen gesprochene Meänkieli, das in Schweden als eigene Minderheitensprache, in Finnland aber als Dialekt des Finnischen betrachtet wird. Noch komplizierter wird die Situation dadurch, dass Dialektgebiete nicht an den Grenzen der Nationalstaaten haltmachen, in Deutschland etwa die rheinfränkischen Dialekte, die teilweise an und jenseits der Grenze zu Frankreich gesprochen werden, und in Finnland die Peräpohjola-Dialekte, die auch auf schwedischem und norwegischem Gebiet auftreten.
Geschichte der Dialekte
Traditionell werden die Dialekte vor allem mündlich verwendet. Sie hatten jedoch auch einen wesentlichen Einfluss auf die finnische Schriftsprache. Michael Agricola, der oft als Vater des geschriebenen finnischen Worts bezeichnet wird, basierte seine Schriftform vor allem auf dem Dialekt, der im 16. Jahrhundert im Westen um die Stadt Turku herum gesprochen wurde. Als um 1810 die Erneuerung der finnischen Schriftsprache diskutiert wurde, entbrannte um die Frage des Einbezugs der Ostdialekte der sogenannte Kampf der Dialekte. Am Schluss stand ein Kompromiss: Der Wortschatz sollte weiterhin auf den Westdialekten beruhen, aber um lautliche und morphologische Merkmale aus den Ostdialekten ergänzt werden. In einigen Fällen wurden auch beide Varianten übernommen, zwischen denen sich stilistische Unterschiede etablierten. Neben dem ostfinnischen kesä ‘Sommer‘ etwa steht im heutigen Standardfinnischen das Wort suvi, das im Ostfinnischen dieselbe Bedeutung hat, im allgemeinen Gebrauch aber eine höhere, feierliche Stilebene evoziert.
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert erwachte in Finnland ein neues Interesse an den Dialekten, das seine Wurzeln in einem idealisierten Bild dieser Varietäten als unverdorbener Sprache vor dem beängstigenden Hintergrund der schnellen gesellschaftlichen Entwicklung hatte. Wesentlich dazu beigetragen hatte die in dieser Zeit rasch vor sich gehende Urbanisierung. Immer mehr Menschen verließen ihre Heimatdörfer und zogen in die Städte, wo sich die Dialekte mischten und neue herausbildeten. Unter dem Einfluss dieser Entwicklungen sowie der Hochsprache befürchtete man das Verschwinden alter Bräuche. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich für die jüngere Zeit und den sogenannten Dialektboom der 1990er-Jahre beobachten. Im Zusammenhang mit der Eingliederung Finnlands in die EU und der zunehmenden Globalisierung lenkte sich das allgemeine Interesse auf die Volkskultur und das, was Finnland einzigartig machte. Die Dialekte boten in diesem Zusammenhang Heimatbindung und Identifikationsfläche.
Seinen Anfang nahm der Dialektboom der1990er-Jahre mit der Übersetzung von Asterix in den Savodialekt, für die ein Übersetzungswettbewerb ausgerufen wurde. Interessanterweise kam die eigentliche Idee zu einer solchen Übersetzung daher, dass die Comics zuvor in Deutschland in verschiedene Dialekte übertragen wurden. Es lässt sich also durchaus behaupten, dass der finnische Dialektboom zumindest teilweise ein Produkt von Entwicklungen auf dem deutschen Buchmarkt ist.
Die finnischen Dialekte in der Gegenwart
Doch wie steht es heute um die finnische Sprachlandschaft? Die alten Dialekte, die noch im 19. Jahrhundert gesprochen wurden, existieren im Zeitalter von moderner Kommunikation und Landflucht nicht mehr. Spurlos verschwunden sind sie allerdings nicht. Vielmehr haben sie Eingang in die Umgangssprache gefunden. Durch den von einer höheren Mobilität der Menschen getragenen Ausgleich zwischen den Dialektgebieten haben bestimmte Merkmale sich auf große Gruppen von Sprechern ausgebreitet – und tun dies noch immer.
Professor Marjatta Palander von der Universität Joensuu in Ostfinnland beobachtet beispielsweise, wie sich das Pronomen
ketä aus einem ursprünglich kleinen westfinnischen Dialektgebiet in Richtung Osten ausbreitet. Dabei helfen neben Fernsehen und Radioprogrammen auch die neuen Medien, vor allem Diskussionsforen im Internet. Dass sich gerade ein westfinnisches Merkmal nach Osten ausbreitet, ist für Palander ein klares Zeichen dafür, dass die westfinnischen Dialekte in Finnland noch immer eine starke Position besitzen. Ein Großteil der Finnen wohne außerdem in westlichen Gebieten und in Radio und Fernsehen höre man öfter west- als ostfinnische Dialekte.
In die finnische Literatur und Kultur haben aber Dialekte beider Sphären in zunehmendem Maße Eingang gefunden. Wie unterschiedlich die Künstler ihren jeweiligen Dialekt als Ausdrucksmittel verwenden, zeigen die folgenden drei Beispiele.
Heli Laaksonen
Für die Schriftstellerin und Dichterin
Heli Laaksonen bedeutet ihr Dialekt eine Verbindung zur Heimat, die untrennbar mit der eigenen Identität verbunden ist. In ihrem Text
Äirinkiäl aus der Sammlung
Pulu uis (2000) vergleicht sie das Eintauchen in den eigenen Dialekt mit dem Nachhausekommen nach einem langen Tag, in die vertraute Umgebung der Kindheit und die Arme der Mutter, die Geborgenheit und Liebe spenden. Auch Humor kommt bei ihr nicht zu kurz, wenn sie die Stereotype unterschiedlicher Gegenden in Finnland und ihre Bewohner auf die Schippe nimmt oder über ihre Erfahrungen mit begeisterten, verwirrten oder desinteressierten Zuhörern und den Fragen der Medien erzählt. Wichtig für ihr Verständnis der finnischen Dialekte war vor allem Väinö Linnas Buch Der unbekannte Soldat (
Tuntematon sotilas). Die Soldatencharaktere, die jeweils in ihrem Heimatdialekt sprechen, weckten in Laaksonen nach eigenen Angaben Bewusstsein und Interesse für die verschiedenen Arten, auf die in Finnland Finnisch gesprochen wird. Später studierte sie in Turku bei Kalevi Wiik, der an der dortigen Universität bis 1997 als Professor für Phonetik tätig war und das Vorwort für Laaksonens ersten Gedichtband schrieb. Heli Laaksonen ist auch eine ausgesprochen aktive Künstlerin, die mit ihren Gedichten durch Finnland tourt und zuweilen auf 100 Auftritte im Jahr kommt.
Juhani Koskinen
Für Juhani Koskinen dagegen ist der Dialekt eher literarisches Stilmittel. Wie Rosa Liksom wird er zur Tornioer Schule gezählt, deren Autoren den Dialekt als gleichberechtigte Sprachform nutzen und damit keine besondere Bindung an ihre Heimatregion ausdrücken. Mit seinem Erstlingswerk
Äijä (1996), einer Sammlung oft dunkler und philosophischer Gedichte, erschien er wie aus dem Nichts auf der literarischen Bildfläche, nachdem er ein Jahr zuvor den J. H. Erkko-Preis gewonnen hatte. Daneben brachte er bisher erst eine weitere Gedichtsammlung heraus, allerdings nicht auf Dialekt.
Verjnuarmu
Schließlich ist da noch Savometal – noch nie davon gehört? Das ist kein Wunder, denn die Band
Verjnuarmu bezeichnet sich selbst und ihren Musikstil als einzigartig in Finnland. Vor nunmehr 16 Jahren in Kuopio gegründet, spielten sie bis vor Kurzem Melodic Death Metal mit Einflüssen aus Black und Folk Metal und ergänzten diese Mischung mit Texten, die im Dialekt von Savo geschrieben sind. Dabei unterstützt die Sprachform etwa solche Texte, die einen märchenhaften Anklang haben oder von mythischen Wesen erzählen und solche, die Kindheitserinnerungen und Vergangenheit thematisieren. Der Gebrauch des Dialekts beschränkte sich jedoch nicht auf die Liedtexte. Auch die Webseite der Band und die Kommunikation mit ihren Fans lief auf Savo. Dazu trat jedes der Bandmitglieder etwa in Musikvideos als fiktionale Figur auf, die eine detaillierte Hintergrundgeschichte hat. Für Verjnuarmu war der Dialekt mehr als nur ein Mittel zum Ausdruck, sondern mit einer Lebenseinstellung verbunden. Deutung und Verantwortung für ihre Liedtexte etwa überließen sie dem Hörer – es sei nicht alles so ernst gemeint, wie es aussehe. Nach dem Tod von Schlagzeuger Janne Rissanen alias Musta Savo löste sich die Band im August 2018 auf.
Die finnischen Dialekte – ein Kaleidoskop
Die finnischen Dialekte sind also ein umfassenderes Feld, als es zunächst den Anschein hat. Wer sich mit ihnen beschäftigt, erfährt viel über die Entwicklung der finnischen Sprache und die Einflüsse der Dialekte untereinander, aber auch über die finnische Geschichte, von der ersten Besiedelung des Landes über den Kontakt mit anderen Völkern bis zur Entwicklung der Schriftsprache und den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte. Im Spiegel der Dialekte zeigt sich deutlich, dass das Finnische keine einheitliche Sprache ist, die an den Landesgrenzen haltmacht, sondern in einem Kontinuum von Formen existiert, die im Westen in die schwedischen und im Osten in die karelischen Dialekte übergehen. In allen Bereichen, in denen die Dialekte auftauchen, eröffnen sie neue Perspektiven, und jeder Finnlandbegeisterte, der sich mit ihnen beschäftigt, wird das Land im Norden mit ganz neuen Augen zu sehen bekommen.
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