Flucht in Vergangenheit und Gegenwart
Eine Forschergruppe aus Finnland und den USA untersucht die Lebensläufe der karelischen Flüchtlinge nach dem Winter- und Fortsetzungskrieg.
von MoinMoiNews , 06.03.2019 — 0 Kommentare
„Möge
meine Hand verdorren, die gezwungen ist, ein derartiges Papier zu
unterschreiben“ – so kommentierte der finnische Präsident Kyösti
Kallio die Ratifizierung des Friedensvertrags von Moskau, der im März
1940 den Winterkrieg zwischen Finnland und der Sowjetunion beendete.
Dem Vertrag vorausgegangen waren erbitterte Kämpfe im eisigen
Winter, bei denen sich Finnland lange gegen den Angriff des östlichen
Nachbarn verteidigen konnte, schließlich aber doch einlenken musste.
Der Vertrag von Moskau brachte so zwar ein Ende des Krieges, doch
Kallios Worte bezogen sich vor allem auf den Preis dieses Friedens:
Finnland musste unter anderem große Teile Kareliens im Osten des
Landes abtreten, das direkt an das Gebiet der Sowjetunion angrenzte.
Die dort ansässige Bevölkerung floh ins Landesinnere. Mehrere
hunderttausend Menschen mussten in westlichere Gebiete evakuiert
werden.
Für
einige dieser Evakuierten blieb dies indes nicht die einzige Flucht
nach Westen. Nachdem die im Winterkrieg verlorenen Gebiete im
anschließenden Fortsetzungskrieg zurückerobert wurden, kehrten
einige Karelier in ihre Heimat zurück – nur um sie dann erneut
verlassen zu müssen, als Finnland sie nach Kriegsende wieder an die
Sowjetunion abtreten musste. Insgesamt verließen etwa 11 Prozent der
damaligen finnischen Bevölkerung die Gegend, in der sie aufgewachsen
waren, und siedelten sich in westlicheren Gebieten an. An dieser
„Ausnahmesituation in der Geschichte“ setzt nun eine umfassende
Untersuchung der Universitäten von Turku, Helsinki und Missouri in
Kooperation mit dem finnischen Bevölkerungsverbund Väestöliitto
an. „Anhand der historischen Situation konnten wir beobachten, wie
wahrscheinlich es für verschiedene gesellschaftliche Gruppen ist, in
ihre Heimat zurückzukehren, wenn sich ihnen die Gelegenheit dazu
bietet“, erklärt Robert
Lynch von der Universität Turku ein Teilziel der unternommenen
Forschungen.
Die
Forscherinnen und Forscher untersuchten außerdem die Eheschließungen
von über 160.000 Evakuierten in der neuen Heimat sowie die Anzahl
der Kinder pro Familie und verglichen dabei diejenigen, die im
Fortsetzungskrieg eine Rückkehr in den Osten Finnlands gewagt
hatten, mit denen, die nach der ersten Evakuierung in Westfinnland
geblieben waren. Den ersten Ergebnissen zufolge bekamen die Familien,
die zweimal vertrieben worden waren, im Durchschnitt mehr Kinder,
blieben jedoch eher unter sich, während unter den in Westfinnland
Gebliebenen Eheschließung mit Westfinnen häufiger und große
Familien seltener waren. Nach Meinung der Forschergruppe zeigt sich
in diesen Lebensentwürfen bei einigen Gruppen die starke Bindung an
den Geburtsort, während andere schnell Beziehungen in ihrer neuen
Heimat aufbauten und dadurch auch ihren Status innerhalb der
Gesellschaft verbesserten. Beides habe einen ganz konkreten Einfluss
auf die Familien und ihre sozioökonomische Situation gehabt.
Auch
wenn ihre Untersuchung sich mit der Vergangenheit beschäftigt, sehen
die Forscherinnen und Forscher eine klare Verbindung zu gegenwärtigen
Entwicklungen. „Unsere Ergebnisse sind wichtig für das Verständnis
der Erlebnisse, die Migrantinnen und Migranten heute machen“,
erklärt John Loehr von der Universität Helsinki. „Sie können
damit entscheidendes Hintergrundwissen für eine Politik liefern, die
Migrantinnen und Migranten bei der Integration und zugleich der
Verbesserung ihrer sozialen Situation unterstützen will.“
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