Ein langer Tag auf dem Schiff liegt hinter ihnen, als die Seeleute im düsteren Hafen von Bord gehen. Eisig bläst der Wind vom Meer herüber, und der Atem bleibt den Männern als Nebelschleier vor den Gesichtern stehen. Doch aus einem Gebäude am Kai fällt noch Licht auf die feuchten Pflastersteine. In Gedanken schon bei einem heißen Kaffee und ein wenig seelischer Erbauung steuern die Männer auf die Kirche zu.
Dieses Bild haben einige vielleicht als erstes vor Augen, wenn sie von einer Seemannskirche hören. Lange Zeit war die finnische Seemannskirche auch genau das: ein Ort, an dem Seeleute auf ihren langen Reisen einen Gottesdienst besuchen konnten. Doch über die Jahre hat sich mit den technischen Entwicklungen auf See und den Bedürfnissen der Menschen auch die Arbeit der Kirche geändert.
Früher Seeleute, heute Au-pairs
Gegründet wurde die finnische Seemannskirche vor fast 150 Jahren als Seelsorgegesellschaft für finnische Seeleute und wurde bald darauf auch vom kaiserlichen Senat des damaligen Großfürstentums Finnland anerkannt. Der erste Pastor der Kirche war der 25-jährige Elis Bergroth aus dem Domkapitel der südfinnischen Stadt Porvoo, der seine Arbeit 1880 in Grimsby in England aufnahm.
Seit ihrer Gründung unterstützt die Kirche Menschen, die sich fern der Heimat aufhalten. Das waren schon immer nicht nur hauptberufliche Seeleute, sondern auch Reisende und finnische Emigranten. Zusätzlich zu Gottesdiensten und Andachten auf Schiffen umfasste ihre Arbeit Besuche bei Finninnen und Finnen in Krankenhäusern und Gefängnissen, und natürlich verfügten ihre Geschäftsstellen von Anfang an auch über eine Sauna. Um die Besatzung der Schiffe auf langen Fahrten mit Lesestoff in ihrer Muttersprache zu versorgen, belieferte die Kirche sie mit Zeitungen und Zeitschriften.
In den 1960er-Jahren begann sich der Betrieb auf See und damit auch die Arbeit der Seemannskirche zu verändern: Die Schiffe wurden größer und die Besatzungen kleiner, an den Küsten entstanden Großhäfen, die weit von den Stadtzentren entfernt lagen, und die neuen technischen Möglichkeiten verkürzten die Zeit, die die Seeleute in den Häfen verbrachten. Damit hatten sie auch weniger Gelegenheit, die Einrichtungen der Seemannskirche zu besuchen. Gleichzeitig brachten die Zunahme internationaler Reisen und die verstärkte Globalisierung neue Besuchergruppen in Kontakt mit der Kirche. So heißt die finnische Seemannskirche heute viele im Güterfernverkehr tätige Menschen sowie Au-pairs, Studierende und Touristen willkommen und steht grundsätzlich Besucherinnen und Besuchern jeder Nationalität und Religion offen. Neben der kirchlichen Arbeit entwickelte die finnische Seemannskirche sich so zu einem Stützpunkt finnischer Sprache und Kultur im Ausland sowie zu einem Schaufenster für Lebensmittel und Design aus dem Norden.
Vor Anker in Helsinki, London und Hamburg
Das zentrale Büro der finnischen Seemannskirche liegt in Helsinki, von wo aus Finanzen, Verwaltung und Kommunikation gesteuert werden. Als Generalsekretär fungiert gegenwärtig Hannu Suihkonen, der zuvor lange Zeit diakonischer Leiter des Gemeindeverbands von Turku und Kaarina war. Der Kirchenvorstand besteht aus dem Vorsitzenden Timo Lappalainen und seiner Stellvertreterin Paula Raitis und wird von der Wahlversammlung berufen. Daneben kommt einmal jährlich eine Mitgliederversammlung zusammen. Finanziert werden die Aktivitäten der Kirche zu einem großen Teil über Spenden und Fördergelder.
In ihrer langen Geschichte hat die finnische Seemannskirche eine Reise in die Welt angetreten: Insgesamt wurden 30 Standorte im Ausland eröffnet, von denen heute nicht mehr alle aktiv sind. In Finnland ist die Kirche an acht Orten vertreten, nämlich in Kemi-Tornio in Lappland, in Oulu, Raahe und Kokkola an der Westküste sowie in Rauma und Turku im Süden, in Hamina im Südosten und in der Hauptstadt Helsinki. Hinzu kommen Vertretungen in Brüssel, Antwerpen, Rotterdam und Lübeck. In Athen bildet die finnische Kirche einen Teil der skandinavischen Seemannskirche. Reisende Pastorinnen und Pastoren sind zudem in Irland, Polen und verschiedenen südostasiatischen Ländern unterwegs.
Zwei Standorte befinden sich schließlich in Hamburg und London. Für MoinMoi geben einige ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Einblick in den Alltag der Seemannskirche in diesen großen europäischen Hafenstädten.
Ein Wohnzimmer in London
Seemannspastorin und Leiterin der finnischen Seemannskirche in London ist die aus dem ostfinnischen Punkkaharju stammende Marjaana Härkönen. Für etwa 20.000 Finninnen und Finnen in Großbritannien bietet ihre Kirche in der Hauptstadt einen Anlaufpunkt mit Sauna, Finnlandladen und einem kleinen Café. Frau Härkönens Arbeit ist umfassend, denn neben den Taufen, Hochzeiten, Beerdigungen, Gottesdiensten und dem Konfirmationsunterricht ist sie bei Bedarf für Menschen aus ganz Großbritannien da. „Ich fühle mich in meinem Job wohl und empfinde die Arbeit als bedeutsam“, erzählt sie. „In meiner Position als Pastorin darf ich viele Menschen kennenlernen und an ihren Freuden und Sorgen teilhaben – das ist ein großes Privileg.“
In den letzten Jahren hat die Kirche in London viele große und kleine Veranstaltungen erlebt, etwa den fünftägigen Weihnachtsmarkt, den jedes Jahr im November gut 10.000 Menschen besuchen, und den gleichzeitig stattfindenden Straßenmarkt ScandiMarket. 2017 wurde natürlich das hundertjährige Jubiläum der finnischen Unabhängigkeit gefeiert, unter anderem mit einem großen Kinderfest. Fast genauso wichtig sind aber nach Meinung von Frau Härkönen Anlässe wie die Neueröffnung der Sauna im Herbst 2018, auf die viele Besucherinnen und Besucher schon ungeduldig gewartet hätten. „Große Veranstaltungen sind bedeutsam und bekommen viel Aufmerksamkeit, aber die wichtigsten Dinge geschehen immer dann, wenn sich Menschen begegnen, wenn man sich neu kennenlernt, sich wiedersieht, ein offenes Ohr findet und Hilfe bekommt, neue Freundschaften schließt. Dann erfüllt die Londoner Seemannskirche ihre Aufgabe am besten: Sie ist Kirche, Zufluchtsort und Wohnzimmer zugleich.“
Neben der Pastorin, den Sozialkuratorinnen, einer Finanzbeauftragen und den Mitarbeiterinnen in der Küche und im Café arbeiten in London auch viele Freiwillige. Eine von ihnen ist Jasmin Mäki-Maunus, die ursprünglich aus Seinäjoki in Westfinnland stammt. Nach langer Zeit in der Gastronomie sehnte sie sich nach Abwechslung, kam durch einen Hinweis aus dem Freundeskreis zur Seemannskirche nach London und zog damit in eine ihrer Lieblingsstädte. „Das Beste an der Arbeit hier ist die Gemeinschaft“, so erzählt sie. „Die Menschen in der Kirche sind für mich zu einer zweiten Familie geworden. Auch habe ich viele in London lebende Finninnen und Finnen kennengelernt. Es ist allerdings immer wieder eine Herausforderung, mit Menschen zu sprechen, die so verschiedene Akzente haben.“ Die Kirche sei für sie der denkbar beste Platz, um ehrenamtliche Arbeit zu leisten. „Dass ich einem mir so wichtigen Ort etwas zurückgeben kann, bedeutet mir viel.“
Begegnungen in und um Hamburg
Von London aus führt die Reise gen Osten über die Nordsee nach Hamburg, wo die finnische Seemannskirche bereits seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts tätig ist. Im Zweiten Weltkrieg wurde das ursprüngliche Kirchengebäude zerstört, doch nach einer kurzen Pause und einer friedlichen Koexistenz mit der schwedischen Kirche in der Gustaf Adolfskyrkan zog die finnische Seemannskirche 1966 schließlich in ihre heutigen Räumlichkeiten um. Über den Großraum Hamburg hinaus ist sie auch im übrigen Norddeutschland tätig.
Im Hamburger Finnland-Laden können Besucherinnen und Besucher ihr Heim- oder Fernweh mit Roggenbrot, karelischen Piroggen, Roggenchips und dem berühmten Senf „Auran sinappi“ sowie Erbsensuppe und Salmiak stillen. Neben Sauna, Bücherei und Café bietet die Kirche eine Übernachtungsmöglichkeit an, und in der honorarkonsularischen Vertretung des finnischen Außenministeriums kann ein neuer Pass beantragt oder die Geburt eines Kindes registriert werden.
Leiter der Hamburger Seemannskirche ist seit Januar dieses Jahres Valtteri Salmi. Der studierte Sozialarbeiter wirkte zunächst als Sozialkurator in der Kirche in Rotterdam, bevor er nach Hamburg wechselte. In der alten Hafenstadt habe er sich schnell zu Hause gefühlt, auch wenn die Mechanismen seines neuen Arbeitsplatzes ein wenig Einarbeitung verlangt hätten.
Als Vorsitzender konzentrieren sich seine Aufgaben vor allem auf die Leitung der Kirche und ihre Finanzangelegenheiten, doch mitunter bleibt auch Zeit für anderes, etwa für den jährlichen Weihnachtsmarkt, der finnische Landsleute und deutsche Fans des Nordens gleichsam nach Hamburg zieht. Auch das finnische Jubiläumsjahr wurde hier natürlich feierlich begangen. Abseits von großen Festen richtet die Kirche immer wieder verschiedene Veranstaltungen von Ausstellungen bis hin zu Konzerten aus, und einmal im Monat feiert man in Hamburg einen finnischsprachigen Gottesdienst.
Für die Zukunft wünscht sich Herr Salmi vor allem eine Ausweitung der Freiwilligenarbeit. „Die Ehrenamtlichen sind eine große Kraftreserve für die Hamburger Seemannskirche, ohne die viele Projekte nicht umgesetzt werden könnten.“
Ein neues Gesicht in Hamburg ist auch Katri Oldendorff, die als finnische Pastorin in Hamburg und in den finnischen Gemeinden in Bremen, Kiel und Lübeck arbeitet. Aufgewachsen „zwischen den Kulturen“ in Reinbek, besuchte sie als Jugendliche sowohl die Seemannskirche als auch deren Finnischschule regelmäßig und beteiligte sich schon als Kind an der Organisation des Weihnachtsmarktes.
Heute führt sie nicht nur Gottesdienste, Taufen, Eheschließungen und Beerdigungen durch, gibt Hilfe in Krisen, berät in seelischen Fragen und leistet Trauerarbeit, sondern vernetzt auch unterschiedliche Organisationen mit Finnlandbezug untereinander.
„Ich genieße es sehr, dass ich den Menschen nahe sein, ihnen Zeit widmen und an ihrem Leben teilhaben darf“, erzählt sie. Verglichen mit der Arbeit als herkömmliche Pastorin einer Gemeinde habe sie weniger Amtshandlungen zu verrichten, sodass mehr Raum bleibe, um mit den Familien zusammen zu planen, wie beispielsweise ihre Taufen oder Beerdigungen ablaufen sollten. „Das ist auch aus seelsorgerischer Perspektive wichtig. Einzigartig wird meine Arbeit schon dadurch, dass ich mit Menschen aus einer kleinen Gemeinschaft zu tun habe, denen das Bewahren der eigenen Sprache und Kultur viel bedeutet, auch wenn sie gut integriert in der Mitte der Gesellschaft leben. Von Gott zu sprechen, zu beten und die großen Fragen des Lebens auf der eigenen Muttersprache miteinander zu teilen, ist eine sehr intensive Erfahrung, die uns einander näher bringt.“
Ehrenamtliche Arbeit in der Hamburger Kirche leistet Pirjo Salmi aus Oulu, die in ihrem bewegten Leben bereits in verschiedenen finnischen Städten zwischen Helsinki und Rovaniemi gelebt hat. Nach ihrer Pensionierung als Lehrerin begann sie, sich für die Arbeit der finnischen Seemannskirche zu interessieren, und bewarb sich für eine Stelle. Über die Platzierung in Hamburg war sie besonders glücklich, denn sie hatte bereits während des Studiums als Zimmermädchen in München gearbeitet und freute sich über die Gelegenheit, erneut in die deutsche Sprache und Kultur einzutauchen.
Einen ruhigen Arbeitsplatz hat sie damit allerdings nicht gewählt: Es sei nämlich gar nicht so einfach, für die Besucherinnen und Besucher da zu sein und sich gleichzeitig auch noch um die täglich anfallenden Aufgaben zu kümmern. „Für manche Gäste ist der Besuch in der finnischen Seemannskirche ein erster Einblick in die finnische Kultur. Für andere ist es dagegen ein Ort, an dem sie ihre Alltagserlebnisse mit uns teilen und mitunter auch über zutiefst persönliche Lebenserfahrungen sprechen, seien es nun traurige oder fröhliche“, erklärt sie. Sich mit den eigenen Fähigkeiten und Anstrengungen einbringen zu können, schätze sie an ihrer Arbeit am meisten. „Hier kann ich zu etwas Wichtigem beitragen und dabei unter Auslandsfinninnen und -finnen wie Finnlandfreunden gleichermaßen sein.“
Finnische Gastfreundschaft in der Welt
Gespräche in einer vertrauten Sprache, Nähe und Gastfreundschaft sind das Fundament, auf dem die finnische Seemannskirche heute aufbaut. Ob in London, Hamburg oder an anderen Standpunkten in Europa schafft sie Raum für zwischenmenschliche Begegnungen, gemeinsame Feste und ein Gefühl von Zugehörigkeit und Heimat, auch wenn diese noch so weit entfernt liegt.
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