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Die magische Medizin der Finnen

Schon während der Recherchen zu ihrer Dissertation stolperte Dr. Stefanie Boman-Degen über mehrere Beiträge Walther Zimmermanns (1890-1945) über Finnland und zu magischen Heilrunen. Als gebürtige Finnin interessierten sie diese Beiträge Zimmermanns natürlich besonders, aber innerhalb ihrer Dissertation bot sich damals für dieses Thema leider wenig Raum. Anfang 2022 fand sie dann endlich die Zeit, einen Beitrag über die von Zimmermann in zwei Aufsätzen beschrieben Heilrunen zu verfassen, der im August 2023 in der Zeitschrift Geschichte der Pharmazie veröffentlicht wurde.

von SusanneT , 04.03.2024 — 0 Kommentare

  • Elias Lönnrot (1802–1884), Fotografie von Charles Conrad Riis (1837–1915) © Public domain, via Wikimedia Commons

  • Titelblatt der medizinischen Dissertation Afhandling om Finnarnes magiska medicin von Elias Lönnrots (1832) © Münchener Digitalisierungszentrum

  • Illustration für das Große / Neue Kalevala (1920) von dem finnischen Künstler Akseli Gallen-Kallela (1865-1931) © Sefanie Bomann-Degen, Austellungsort: Gallen-Kallela Museum Espoo, Finnland

  • Runensänger (um 1890) © Sammlung Mechanical Curator, British Library

  • Denkmal für Elias Lönnrot (1802–1884) aus dem Jahr 1902, Helsinki. Entworfen von dem Bildhauer Emil Wikström. © Stefanie Boman-Degen, 2022

Die magische Medizin der Finnen oder wie können Runen die Wirkung von Arzneien verstärken?

von Stefanie Boman-Degen


Bis ins 13. Jahrhundert war die Volksmedizin in Finnland die einzige medizinische Behandlungsmöglichkeit und noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lag die öffentliche Gesundheitsfürsorge hauptsächlich in den Händen von Heilkundigen,[1] die häufig als „tietäjä“ oder „loihtia“ bezeichnet wurden.[2] Die Volksmedizin war daher keine alternative Medizin, sondern stellte vielfach die einzige Behandlungsmöglichkeit dar. Mit dem zunehmenden Erwerb von Lese- und Schreibkompetenzen distanzierten sich finnische Heiler aber bereits ab der Mitte des 19. Jahrhunderts von vielen „abergläubischen“ Praktiken und etablierten sich stattdessen immer mehr als belesene bäuerliche Intellektuelle, deren Heilmethoden auf einer Mischung aus traditioneller Kräuterkunde und Wissen aus populären Gesundheitsratgebern sowie aus wissenschaftlicher Literatur beruhten. Die finnische Volksmedizin war deshalb spätestens seit dem späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts keinesfalls mehr eine von Generation zu Generation weitergegebene Tradition, sondern vielmehr ein sich stetig modernisierendes Gebiet.[3]
 
Heute beruhen alle Informationen über die frühe finnische Volksmedizin und ihre Praktiken auf Erkenntnissen und Notizen, die ab dem 18. Jahrhundert sporadisch aufgeschrieben wurden. Daher ist es schwierig, herauszufinden, welche Formen der Behandlung und welche Arzneien die Urfinnen tatsächlich nutzten. Gesichert ist jedoch, dass die Sauna bis heute als heilender Ort gilt und als Herzstück der traditionellen Heilkunst angesehen werden kann.[4] Bereits der finnische Bezirksarzt Albert Ferdinand Pfaler (1857–1885), einer der 12 Gründungsmitglieder der finnischen Ärztegesellschaft Duodecim, erkannte diese Bedeutung der Sauna für die Volksmedizin und stellte fest, dass die finnischen Vorfahren bei ihren Heilungsbemühungen große Balneo- und Hydrotherapeuten gewesen seien und dass die Sauna mit ihrem Wasserdampf das beste Kranken- und Operationszimmer dargestellt habe.[5] In der Sauna habe sich für die Finnen über Jahrhunderte der Kreis des Lebens geschlossen, hier seien die Kinder geboren, Kranke geheilt und die Toten gewaschen worden.[6]
 
Der finnische Philologe und Arzt Elias Lönnrott (1802–1884)[7] beschrieb die „magische Medizin“ der Finnen in seiner medizinischen Dissertation Afhandling om Finnarnes magiska medicin von 1832.[8] Er unternahm im Verlauf seines Lebens mehrere Recherchereisen zur Sammlung finnischer „runot“ bzw. „runoja“ (Runen), die ihn vor allem in die damals noch sehr unwegsamen Regionen Ostfinnlands, Kareliens und Weißmeerkareliens, die er größtenteils zu Fuß durchwanderte, führte. Für seine Dissertation verwendete er vor allem Erkenntnisse, die er auf seiner Reise von 1828 gewonnen hatte und gelangte zu der Überzeugung, dass die Finnen der magischen Medizin und der hierbei praktizierten Nutzung von Heilrunen eine höhere Bedeutung und einen größeren Wert zuerkannten, als es im Allgemeinen üblich sei, weil sie glaubten, dass ihre „runot“ unmittelbar von den Göttern abgeleitet seien.[9]
 
„runolauluja“ – Was sind finnische Runen?
Bei den finnisch-ugrischen „runolauluja“ handelte es sich um gesungene oder rezitierte Verse, die in einem besonderen Vermaß, dem sogenannten Kalevala-Versmaß, vorgetragen werden. Als häufiges Stilmittel dienen Alliteration bzw. Stabreim und Parallelismus.[10] Thematisch umfassen sie unterschiedlichste Arten von Liederversen wie beispielsweise Arbeitslieder, die auf dem Feld oder innerhalb von Frauenkreisen beim Spinnen gesungen wurden,[11] aber auch volkstümliche Lyrik und Balladen, die Lönnrot beispielsweise 1840 in seiner Sammlung Kanteletar veröffentlichte.[12]
Für „medizinische“ Praktiken waren jedoch nur die „runolauluja“ von Bedeutung, die Lönnrot als „luwut“[13] (heute „luvut“) bezeichnete und nochmals in „synnyt“ (Geburts- bzw. Herkunftsgeschichten) und „sanat“ (Wörter) untergliederte. Diese wurden begleitend zu medizinisch-magischen bzw. Übel abwehrenden Handlungen rezitiert.[14]
 
„tietäjä“ und „loihtia“ – Finnische Runenkenner als heilkundige Medizinmänner
Über Jahrhunderte wurde vor allem im Osten und Nordostens Finnlands der heute bekannte wichtigste Teil des magisch-medizinischen Wissens der Finnen aufbewahrt. Lönnrot zählt in seiner Dissertation eine Vielzahl an Namen auf, die diejenigen charakterisieren sollten, die sich mit der Praxis der magischen Medizin in Finnland beschäftigten. Diese Heiler und Beschwörer hätten vom Volk unterschiedliche Namen zur Charakterisierung ihrer Eigenschaften und ihres Verhaltens bei der Ausübung ihrer Kunst erhalten, so zum Beispiel „tietäjä“ und „tietomies“ für Personen, die mit Wissen begabt waren, „loihtia“ für eine Person, die sich mit dem Schicksal oder der Bestimmung auseinandersetzte, „lukia“ für eine Person, die etwas „lesen“ konnte und „osaaja“ für eine Person, die etwas Besonderes „konnte“. Die Bezeichnung „laulaja“ meinte dagegen einen Sänger, in diesem Fall von „runot“, und ein „runoja“ war derjenige, der im Gebrauch von „runot“ bewandert war.[15] Die ebenfalls für Heiler vergebenen Titel „myrrysmies“, „intomies“, „innokas“, „haltiokas“ bezogen sich dagegen auf die ekstatischen Zustände, in die sich die finnischen Runensänger versetzen konnten,[16] und der Terminus „kukkaromies“ kennzeichnete schließlich einen Menschen, der mit einem Beutel oder Säckchen ausgestattet war. Finnische Heiler besaßen zumeist ein solches Säckchen, in dem sie die zur Ausübung ihrer Kunst gebräuchlichen Amulette, „Medikamente“ und zahlreiche magische Instrumente aufbewahrten.[17]
Die „loihtiat“, mit dieser Bezeichnung fasst Lönnrot schließlich sämtliche Bezeichnungen für finnische Heiler zusammen, stellten dabei keine eigene Kaste oder Klasse innerhalb der Einwohner des Landes dar, denn sie beschäftigten sich in der Regel nicht ausschließlich oder bevorzugt mit der magischen Medizin. Dennoch blieb die Kunst des Runenvortragens meistens nur innerhalb einiger Familien erhalten und die Einführung von Neulingen in die Mysterien fand mit zahlreichen Zeremonien statt. Neue „loihtiat“ wurden beispielsweise inmitten von Stromschnellen oder auf einem Felsen initiiert. Man fand sie überall im Land, jedoch seltener in den südlichen Regionen.[18]
 
„luvut“ – „synnyt“ – „sanat“: Magische Verse zur Heilung von Krankheiten
Nach Lönnrot wurden die magischen Liederverse, die ein finnischer „loihtia“ kennen musste, im Allgemeinen „luvut“ genannt. Diese untergliederte er nochmals in „synnyt“[19] (Geburts- bzw. Herkunftsgeschichten) und „sanat“ (Wörter).[20] Die „synnyt“ nehmen innerhalb der finnisch-karelischen Mythologie bis heute eine bedeutende Stellung ein und werden auch „syntysanat“ (Ursprungsworte) oder „syntyloitsut“ (Ursprungszauber) genannt.[21]
„Synty-Verse“ gelten nach aktuellem Forschungsstand als wichtigster Bestandteil der finnisch-karelischen Heilungsrituale. Sie erzählen vom Ursprung bedeutsamer oder potenziell lebensbedrohender Phänomene für die damaligen Menschen, wie beispielsweise vom „Ursprung von Krankheiten“, der „Herkunft des Eisens“ oder dem „Ursprung von Schlangen“. Gerade durch die Beschwörung und Ausmalung der mythologischen Herkunft des jeweils ein Leid verursachenden Phänomens, wie beispielsweise eines Schlangenbisses, einer Krankheit oder einer durch ein Eisenwerkzeug verursachten Wunde, sollte das lebensbedrohende Übel gebannt werden. Obwohl viele Inhalte dieser Ursprungsworte auch in anderen Kulturen zu finden sind, scheinen doch einige der Verse aus den finnisch-karelischen Gebieten eine außergewöhnliche Stellung innerhalb Eurasiens einzunehmen.[22]
 
Die Verwendung von „synty“-Versen
Die Kenntnis von „synnyt“ war ein charakteristischer Wissenszweig der traditionellen finnischen Heiler. Man glaubte, dass das Wissen um den Ursprung der Dinge es ermöglichte, Kontrolle über sie auszuüben. Zeremonien, die der Heilung dienten, konnten zum Beispiel mit den Worten „Kyllä tunnen syntymäsi“ bzw. „Kyllä, tiiän rauwan synnyn“ („Kenn` ich wohl die Geburt des Eisens“)[23] oder „Itse tieän rau[d]an synnyn“ („Kenn' ja selbst des Eisens Ursprung“)[24] beginnen.[25] Nachdem man lange Zeit davon ausgegangen war, dass die „synty“-Verse in erster Linie als Vorworte zu Zaubersprüchen rezitiert wurden,[26] um einen Zauberspruch wirksamer zu machen, oder als Teil eines Diagnoseprozesses genutzt wurden, legen neuere Erkenntnisse nahe, dass die „synty“ oft mit anderen Beschwörungsformeln kombiniert wurden und vor allem der Heilung dienten. Ihr primärer Verwendungskontext war dabei scheinbar die Verbesserung realer physischer Verletzungen und Wunden und nicht nur die Heilung metaphysischer Schädigungen, deren Krankheitsverursacher unbekannt waren.[27] Die finnische Folkloristin und Kulturanthropologin Arja Anna-Leena Siikala (1943–2016) stimmt in ihrem Werk Mythic images and Shamanism dieser Ansicht zu, unterscheidet jedoch die Beschwörungsarten nochmals in vier Kategorien: Die Gebetsbeschwörung, die „rukousloitsut“ genannt wird, die erzählende oder allegorische Beschwörung, die als „historiolas“ bezeichnet wird, die „syntyloitsu“, die die bereits genannten Ursprungsworte umfassen, und schließlich die Beschwörungsformeln, die „manausloitsu“, die dazu genutzt wurden, einen Krankheitserreger zu bezwingen und auszulöschen. Letztere dienten auch zur Formulierung von Wünschen und Aufforderungen.[28] Siikala ist zudem der Auffassung, dass das Wesen der Heilmethoden und der damit verbundenen Beschwörungen nur verstanden werden könne, wenn die ihnen zugrunde liegenden volksmedizinischen Krankheitsmodelle bekannt sind.[29]
 
Was verstanden die Finnen unter Krankheiten und wie konnten sie behandelt werden?
Unter Krankheiten („tauti“) verstanden die Finnen allgemein etwas Böses oder Feindseliges gegenüber dem Organismus. Dieses Übel wurde dem damaligen Glauben entsprechend entweder von den Göttern gesandt („jumalan tauti“ oder „oma tauti“) oder von Pfeilen bzw. Spänen bösartiger Menschen übertragen („panentatauti“). Im ersteren Fall war die Krankheit etwas, wofür der Organismus früher oder später bereit war und gegen das alle Bemühungen, es zu entfernen, fruchtlos blieben, denn es endete mit dem für jedes Lebewesen bestimmten Tod („ajallinen kuolema“). Krankheiten, die jedoch von „bösen“ Menschen geschickt worden waren, konnten durch die Anwendung korrekter Maßnahmen und Mittel besiegt werden, womit die richtige Beschwörungsart und die Einhaltung bestimmter Zeremonien gemeint waren, bei denen gelegentlich auch verschiedene Heilmittel verwendet wurden.[30]
Die Beschwörungen waren beim zu erwartenden Heilungsprozess nicht nur ein magisches Mittel zur Beeinflussung der Krankheit, sondern auch ein Mittel zur direkten Kommunikation mit der Krankheit und dem für sie verantwortlichen Agens. Der sich in Ekstase befindliche „tietäjä“[31] sprach die Krankheit dabei direkt in langen dramatischen Beschwörungskompositionen an. Hierzu flehte, prahlte und versuchte er, die Krankheit zu bezwingen.[32] Innerhalb dieser Zeremonie war die Grenze zwischen mechanisch drohenden und kommunikativen Beschwörungen schwer zu ziehen, weil ein und dieselbe Beschwörungsart für beide Zwecke verwendet werden konnte. Nur ein Sachkundiger, der eine echte Beziehung zum Übernatürlichen aufbauen konnte, war in der Lage, Beschwörungen zur Kommunikation mit der anderen Welt zu verwenden.[33] Bereits im 18. Jahrhundert hatte der finnische Humanist Henrik Gabriel Porthan (1739–1804)[34] bei der Charakterisierung der „synty-Verse“ die These aufgestellt, dass sich die „tietäjä“ durch die Kenntnis der Beschwörungsformeln eines mythischen „Ursprung“ (originem) für fähig hielten, sich die Kräfte der Natur, der Elemente und aller Lebewesen zu unterwerfen und ihre innersten Kräfte zu beherrschen.[35] Der Priester, Lexikograf und Kompilator der finnischen Volkskultur Cristfried Ganander (1741–1790)[36] wies zudem darauf hin, dass die Laien im Allgemeinen glaubten, dass bereits beim Rezitieren von Ursprungsformeln Schmerzen gelindert und geheilt werden konnten. Dies traf vor allem zu, wenn die Verletzungen und Wunden durch Schlangenbisse oder scharfe Gegenstände wie Metallklingen und Äste verursacht worden waren. Die hierzu genutzten Ursprungsformeln, wie beispielsweise die „Entstehung des Baumes“, die „Geburt der Schlange“ oder die „Herkunft des Eisens“[37] wurden dazu über einer Salbe rezitiert,[38] die anschließend medizinisch verwendet wurde, um Blutungen zu stoppen, Verbrennungen oder Infektionen zu behandeln und Schmerzen zu lindern.[39]
 
Der Saunabaderitus – äußere Bedingungen der Heilungsprozedur
Die äußeren Bedingungen eines Heilungsprozesses waren einheitlich gestaltet.[40] Lönnrot beschrieb den Ritus in seiner medizinischen Dissertation. Demnach erfolgte die Behandlung einer Krankheit in der Regel in einer beheizten Sauna. Dies geschah bevorzugt in der Nacht, weil dann alles „heimlicher“ ablaufen konnte. Die Scharniere der Saunatüren wurden gesalbt, damit sie nicht knarrten und den Vorgang verraten konnten. Beim Betreten der Sauna sagte der „tietäjä“ bzw. „loihtia“: „terwe [heute: terve] löyly, terwe lämin, terwe terwehtiällenki!“[41] Dann holte er Medikamente und andere Dinge aus seinem Beutel heraus, die er für seine „Kur“ benötigte. Er steckte einen Pfeil in den Boden, um gegen die „bösen“ Pfeile jener gerüstet zu sein, die ihn hätten treffen und schaden wollen. Anschließend fegte er das Saunadach, die Wände und die Kohle, um alles von dem zu bereinigen, was dem Kranken hätte schaden können. Dann rezitierte er seine Beschwörungen über das Wasser, das Bad, den Besen usw. Es gab verschiedene vorbereitende Worte („alkusanat“), die auch teilweise schon vorher gelesen wurden. Diese dienten dazu, den „loihtia“ in Ekstase („haltia“) zu versetzen, um in diesem Zustand besser auf den Kranken und die Umgebung einwirken zu können. In den Worten bezog sich der „loihtia“ auf die Macht, die ihm die Götter gegeben hatten, und rühmte sich seiner Fähigkeiten und Fertigkeiten. Der Zustand der Ekstase, in den der „loihtia“ sich zu versetzen versuchte, wird in der finnischen Sprache mit „olla innossaan“ oder „haltioissaan“ beschrieben und der finnische Schamane benahm sich dabei bisweilen, als wenn er wütend wäre. Seine Sprache wurde laut und heftig. Vor dem Mund bildete sich Schaum und die Zähne wurden zusammengebissen. Die Haare wurden gerauft, die Augen verdreht und die Augenbrauen gerunzelt. Er spuckte aus und verdrehte seinen Körper auf unnatürliche Weise. Er stampfte mit dem Fuß und sprang auf und ab. Angeblich konnten sich die fähigsten Heiler jederzeit in einen solchen Zustand versetzen. Teilweise murmelten sie ihre Worte aber auch wohl nur leise vor sich hin, sodass man nicht hören konnte, was genau sie sagten.[42]
 
Pharmazeutisches in der magischen Medizin der Finnen
Lönnrot schrieb, dass die Medikamente, die von den finnischen Heilern in ihren Heilmitteln verwendet wurden, normalerweise einfache Dinge wie beispielsweise Schnee, Eis, Milch, Honig, Salz, Schwefel, Kohle, Kampfer, Terpentin, Harze, Talg, Schnaps, Kräuter oder Wurzeln waren. Es wurden aber auch Metalle[43] wie Quecksilber, Silber und Gold verwendet. Zudem nannte Lönnrot komplexere Zubereitungen wie Abkochungen, Tinkturen, Kataplasmen, Salben und Pflaster. Darüber hinaus kamen Schmalz, Fleisch und die Haut der Schlange, pulverisierte Knochen von Toten, abgekratzte Rinde von Bäumen oder abgekratzte Steinchen von Kirchenmauern usw. zum Einsatz. All diesen Drogen und Heilmitteln war nach Lönnrots Meinung jedoch gemeinsam, dass sie erst durch das Vortragen von Beschwörungsversen ihre eigentliche Kraft entwickeln konnten.[44] In einer im Dezember 1841 erschienenen Erweiterung seiner Dissertation schrieb Lönnrot zu den von den „loihtiat“ verwendeten Heilmitteln, dass sie ebenso wie die anderen Praktiken der Heiler eher auf die Psyche der Patienten Einfluss nähmen, womit er die Praktiken jedoch keineswegs als unwirksam deklassieren wollte. Seiner Meinung nach konnte eine positive Wirkung auf die Psyche teilweise mehr bewirken als viele Tropfen, Pulver und Mixturen der studierten Ärzte, wie sie beispielsweise in Zeiten der Pest verwendet worden waren.[45] Der deutsche Pharmaziehistoriker Walther Zimmermann (1890–1945)[46] betonte hingegen die außerordentliche Bedeutung der Salbe als Heilmittel der Finnen.[47] Bei den von ihm für seine Aufsätze analysierten Runen handelte es sich um finnische Gedicht-Gesänge, die der Archäologe, Mathematiker und Bibliothekar Hans Rudolf Schröter (1798-1842)[48] nach seiner Studienreise 1819 in Uppsala auf Deutsch unter dem Titel Finnische Runen veröffentlicht hatte. Schröter hatte die Runen vornehmlich in der Provinz Savolax[49] gesammelt, die auch Lönnrot als Hauptauffindungsquelle für „runot“ gedient hatte und die bis heute als eine der wichtigsten Fundstellen für finnische Ursprungsrunen gilt. Schröter schrieb in seinem Vorwort:
 
„So viel ist jedoch ausgemacht, daß [sic!] in dieser Mythologie eine merkwürdige Naturbegreifung vorwalte, und die Trümmer einer uralten Philosophie aus ihr bedeutsam hervorschauen.“[50]
 
Bereits innerhalb seines Vorworts verwies Schröter ebenfalls auf die Bedeutung der „synty“-Verse:
 
„Um aber ein Uebel heilen, Gewalt über es zu gewinnen zu können, mußte [sic!] man die Erzeugung, die Geburt, finnisch: synty, des Gegenstandes erzählen, welcher das Uebel [sic!], eine Wunde, eine Krankheit u.s.w. verursacht.“[51]
 
Zimmermann knüpfte in seinen Aufsätzen hieran an und vermeinte in den „synty“-Gesängen eine finnische Urpharmazie erkennen zu können. Seiner Meinung nach befanden sich unter den Ursprungsrunen, die Schröter veröffentlicht hatte, vor allem drei Heilrunen, aus denen Angaben über die finnische Volksmedizin zu entnehmen seien. Diese Runen waren für ihn „Die Herkunft der Salben“, „Die Herkunft des Feuers“ sowie „Die Herkunft des Eisens“.[52] Zimmermann glaubte in diesen Runen nämlich Honig und Fett als besonders geschätzte Heilmittel ausmachen zu können. Vor allem die Rune „Woiteen Synty“[53], in der es um einen sagenhaften und urgewaltigen Ochsen geht, der über ganz Finnland stand und der von einem kleinen Mann aus dem Meer („Uros“) zu Fall gebracht wird, sah er als einen bedeutenden Hinweis darauf an[54]:
 
Woiteen synty
Härkä kaswo Kainuhussa,
Lihoi mulli liiotengin.
Pää häly Hämeenmaassa,
Häntä torkku Torniossa:
Päiwäkauwen pääsky lensi […]
 
Die Geburt der Salben
Wuchs ein Ochse in Kajana,
Ward besonders fett ein Bulle.
Rührt sein Haupt er in Tawastland,
Schlief sein Schwanz in Torneå;
Einen vollen Tag flog Schwalbe […][55]
 
Nachdem sechs Tonnen Talg aus dem Ochsen gewonnen werden konnten, wurde hieraus eine Salbe gegen Schmerzen und Brandwunden hergestellt:
 
„Den Altfinnen muss die Salbe als wichtigste Arzneiform erschienen sein. Wir gehen kaum fehl, wenn wir die Salbe, richtiger das Fett, als die ersteinfache Heilmittelform auffassen.“[56]
 
Zimmermanns Meinung nach waren Salben für die Finnen so sehr der Inbegriff aller Heilmittel, dass der Begriff „woide“ (heute: voide) eigentlich nur mit dem Begriff „Heilmittel“ zu übersetzen sei. Die Arzneibereiter seien folglich die „woitajoilta“ bzw. „voitajoilta“, also eigentlich die „Urapotheker“. Ob es aufgrund der von Schröter übersetzten finnischen Runen tatsächlich möglich ist, den Salben in der finnischen Urmedizin eine so große Bedeutung zuzuweisen, ist wohl zu gewagt. Aber Salben spielten in der traditionellen finnischen Medizin der „tietäjä“ vermutlich tatsächlich eine herausragende Rolle, denn man benötigte sie zur Linderung von Verletzungen wie Schnitt- und Brandwunden, die sicher alltäglich vorkamen. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, wenn Salben in den Runen „tulen synty“[57] und „rauwan / „raudan synty“[58] als Heilmittel auftauchen, die als sehr bekannte „synty“-Verse bezeichnet werden können. Diesen Ursprungsversen widmete auch bereits der finnische Folklorist, Hochschullehrer und Entwickler der geografisch-historischen Methode der Volkskundeforschung Kaarle Krohn (1863–1933) eigene Kapitel.[59]
Gemäß der Salben-, Eisen- und Feuer-Rune bestanden die finnischen Salben vermutlich vornehmlich aus Rindertalg. Auch Lönnrot nennt Schmalz als ein Arzneimittel, das die Heiler in der Regel bei sich trugen. Als Inhaltstoff dieser Salben wird Honig genannt.[60] Zimmermann verweist hierzu auch auf eine schwäbische Tradition, nach der man Honig äußerlich auf Geschwüre strich.[61] Heute spricht man sogar von einer „Wiederentdeckung des Honigs“ für die Wundbehandlung.[62] Zimmermann vermeint in den Versen: „Salb` damit die Weh erstarrte! Salb` streich auf die Oberseite, Salbe auf die Unterseite, Hauch hinein zur Schmerzbefreiung, niedwärts, daß nicht Hilfe nötig“[63] zudem die Handbewegungen des Einsalbenden nachempfinden zu können. Das Hineinhauchen in die Salbe durch den Salbenbereiter bestätigt die These, dass der finnische „tietäjä“ glaubte, den Atem eines Gottes in sich zu tragen und diesen zur Heilanwendung auf Patienten übertragen zu können.[64] Zur Behandlung von Wunden, die das Eisen (Schwert) schlug, schreibt Zimmermann: „[Die] Wunde will zu Eiter werden“[65], deshalb wird eine Biene ausgesandt, um Honig [und Salben] zu holen.[66] Brandwunden, wie sie im Gesang über die Herkunft des Feuers beschrieben werden, werden ebenso behandelt. In der Rune heißt es:
 
„Mache Feuers Glut unschädlich, / mache Feuer Glut unschädlich, / mache Feuer unvermögend! / Nimm sogleich ihm seinen Namen / unter meiner Augen draufseh`n, / unter meiner Hand drauflegen, / unter meines Hauchs Draufhauchen!“[67]
 
1921 schreibt Zimmermann, noch zu seiner Zeit habe das einfache Volk in Baden Wunden oder Schmerzen so oder so ähnlich besprochen und Brandwunden mit Fett eingerieben.[68]
 
Die Kalevala als Quelle für die traditionelle Medizin der Finnen
Lönnrot veröffentlichte 1835 eine erste Sammlung von 12.078 „Runos", die heute als „Alte Kalevala“ bezeichnet wird. Seine 14 Jahre später publizierte Fassung, die 22.795 Versen in 50 Gesängen enthält, wird heute als „Neue Kalevala“ bezeichnet. Lönnrot hatte zur Veröffentlichung der Kalevala bestimmte Lieder und Verse aus seiner großen Sammlung ausgewählt, die durch geschickte Aneinanderreihung eine zusammenhängende Geschichte ergaben. Er war der festen Überzeugung, dass es in der Vorzeit eine solche fortlaufende Geschichte gegeben habe und kreierte auf diese Weise das heutige Nationalepos der Finnen.[69] Obwohl Lönnrot nur etwa ein Prozent an selbsterstellten Versen der Kalevala hinzufügte, um Fehlendes zu überbrücken, stellt sie doch eine durch ihn erfolgte Auswahl von Versen dar.[70] Der finnische Arzt Kauko Kouvalainen schrieb 1985 zum 150. Jahrestag der Veröffentlichung des Kalevala einen Aufsatz zu dem in dem finnischen Nationalepos enthaltenden Wissen zur traditionellen Medizin der Finnen.[71] Kouvalainen versuchte zu ergründen, ob und wie die Verse der Kalevala das Verständnis des alten finnischen Volkes von Krankheiten und deren Behandlung widerspiegelten.[72] Das Leben in „Kalevala“ und die Kriege, mit denen die finnischen Urahnen scheinbar ständig beschäftigt waren, waren mit unzähligen Verletzungen verbunden. Die Behandlung dieser und insbesondere das Stillen von Blutungen war ein besonders wichtiger Teil der Kalevala-Medizin und stellte zudem eine der größten Herausforderungen der traditionellen Medizin dar.
Deshalb stand die 8. Rune der Kalevala mit den Versen 187–190 für Kouvalainen im Fokus seiner Beschreibungen zur Kalevala-Medizin. Hierin wird erzählt, wie sich der Zaubersänger Väinämöinen[73] bei einem Schiffsbau selbst mit einer Eisen-Axt schwer verwundet und anschließend stark aus seinem Knie blutet.[74]
 
Jo veri jokena juoksi,
hurme koskena kohisi:
peitti maassa marjan varret,
kanervaiset kankahalla.
 
Schon in Bächen floß der Blutstrahl,
„[Das Blut] Brauste wie ein Strom voll Lärmen,
Es bedeckt der Beeren Stengel
Und die Kräuter auf den Fluren;“[75]
 
Vainämöinen versuchte daher, die blutende Wunde mit den üblichen mechanischen Mitteln zu stopfen:
 
otti suolta sammalia,
maasta mättähän repäisi
tukkeheksi tuiman reiän,
paikaksi pahan veräjän;
ei vääjä vähäistäkänä,
 
„Sammelt Moos sich aus dem Sumpfe,
Rupfet Rasen von dem Boden
Um das große Loch zu stopfen,
Um die Wunde zu verschließen,
Brachte aber nichts zu Stande“[76]
 
Weil diese Maßnahmen nicht halfen, war Vainämöinen gezwungen, eine Person zu finden, die Blutungen stoppen konnte. Seine Bemühungen, diese Person zu finden, werden in der Kalevala so detailliert und ausführlich beschrieben, dass man annehmen kann, dass diese Suche das Prestige und die Bedeutung einer Person widerspiegeln sollte. Um Blutungen zu stillen, musste zunächst bekannt sein, wodurch die Blutung verursacht wurde. Deshalb war die Ursprungsrune „Die Herkunft des Eisens" in diesem Fall von außerordentlicher Bedeutung. Gleichzeitig werden im Kalevala-Epos – wie sonst auch häufig bei traditionellen volkstümlichen Behandlungen – übernatürliche Kräfte dazu aufgerufen, den Blutfluss zu dämmen. Im Gedicht 9, Verse 403–410 heißt es:
 
Oi Ukko, ylinen luoja,
taivahallinen jumala!
Tule tänne tarvittaissa,
käy tänne kutsuttaessa!
Tunge turpea kätesi,
paina paksu peukalosi
tukkeheksi tuiman reiän,
paikaksi pahan veräjän!
Veä päälle lemmen lehti,
 
Ukko du o Schöpfer oben,
Gott und Vater in dem Himmel!
Komm herbei, du bist vonnöthen,
Komm, du wirst herbeigerufen,
Drücke mit den kräft'gen Händen,
Dränge mit dem dicken Daumen
Fest zusammen diese Wunde
Und verschließ die böse Öffnung,
Lege drauf gar zarte Blätter,[77]
 
Mit den Versen über den Ursprung des Eisens wird schließlich die Blutung gestillt. Der Blutstiller schickt aber auch seinen Sohn zur Schmiede aus, damit er eine heilende Salbe zubereite, die neben Heublumen und Tausendgüldenkraut[78] auch Honig enthält.
 
Sillä sulki suun vereltä,
tien on telkki hurmehelta.
Pani poikansa pajahan
tekemähän voitehia
noista heinän helpehistä,
tuhatlatvan tutkaimista,
me'en maahan vuotajista,
simatilkan tippujista.
 
So nun stillte er die Strömung,
Hemmte so die Bahn des Blutes,
Schickte seinen Sohn zur Schmiede,
Um dort Salbe zu bereiten
Aus des Grases zarten Fasern,
Aus der Blüth' der Tausendkrone,
Aus dem Honig, der getröpfelt,
Aus des süßen Seimes Theilchen.[79]
 
Letztlich kommt Väinämöinens Blutung aber laut Kouvalainen erst durch einen Druckverband zum Stillstand:
 
senpä leikkeli levyiksi,
senp' on katkoi kappaleiksi,
sitehiksi suoritteli.
Sitoi niillä silkillänsä,
kapaloivi kaunoisilla
polvea pojan pätöisen,
varpahia Väinämöisen.
Sanovi sanalla tuolla,
 
Schneidet Streifen in die Breite,
Reißt dieselben voneinander,
Macht aus ihnen gute Binden,
Bindet dann mit dieser Seide
Und umwickelt gar geschmackvoll
Wäinämöinen's Knie, das kranke,
Und des armen Mannes Zehen.
Redet Worte solcher Weise,[80]
 
Deshalb hält Kouvalainen die Behandlung von Väinämöinens Schnittwunde sowohl aus medizinischer Sicht als auch von ethnologischer Seite her für interessant, weil er in der Tradition des Blutstillens den Glauben an einen sogenannten „Blutstopper“, einen Menschen, der die übernatürliche Fähigkeit besitzt, Blutungen zu stoppen, zu finden glaubt.[81] In Wirklichkeit beruhen die wundersamen Blutstillungen nach Kouvalainens Meinung jedoch auf einer medizinisch einfach zu erklärenden Physiologie, wonach mit fortschreitender Blutung die Thrombusbildung stetig voranschreitet, die zusätzlich durch die Verlangsamung des Blutflusses aufgrund des Blutverlustes unterstützt wird.[82]
 
Andere Passagen, die für die Kenntnisse über die Urmedizin der Finnen wichtig sind, finden sich laut Kouvalainen in der wundersamen Geschichte der Wiedererweckung des Fischers Lemminkäinen. Auch darin findet sich die Honigsalbe als heilbringende Arznei wieder. Lemminkäinen wird auf einer seiner Abenteuerreisen von einem Hüter des Totenflusses mit einer Schlange bzw. Schlangenschierling durchstoßen.[83] Unglücklicherweise fallen Lemminkäinen in seiner Not nicht die Zauberworte gegen die Schlange bzw. den Schlangenschierling ein und er muss sterben. Sein Leichnam wird anschließend von dem Hüter in acht Stücke geteilt und in den Totenfluss geworfen.[84] Lemminkäinens Mutter birgt jedoch alle sterblichen Überreste ihres Sohnes mit einer Harke aus dem Fluss und näht sie wieder zusammen. Um den toten Sohn wieder zum Leben zu erwecken, bedarf es einer Wundermedizin. Deshalb schickt Lemminkäinens Mutter eine Biene aus, um „himmlischen“ Honig zu holen. Als die Biene schließlich aus den Kellern des allmächtigen Schöpfers wiederkehrt, wo man in goldenen und silbernen Gefäßen Salben rührt, da kostet Lemminkäinens Mutter den Balsam mit der Zunge und prüft seine Kraft[85]:
 
„Nämät on niitä voitehia,
kaikkivallan katsehia,
joillapa Jumala voiti,
Luoja vammoja valeli.“
Siitä voiti voipunutta,
pahoin-tullutta paranti.
Voiti luun lomia myöten,
jäsenten rakoja myöten,
voiti alta, voiti päältä,
kerran keskeä sivalti.
Siitä tuon sanoiksi virkki,
itse lausui ja pakisi:
„Nouse pois makoamasta,
ylene uneksimasta
näiltä paikoilta pahoilta,
kovan onnen vuotehelta!“
 
„Dieses ist die rechte Salbe,
Ist des Mächt'gen Zaubermittel,
Womit Gott der Höchste salbet,
Selbst den Schmerz der Schöpfer stillet.“
Darauf salbte sie den Schwachen,
Heilt den Sohn, der schlecht gefahren,
Salbt die Knochen längs den Fugen,
Streicht die Glieder längs den Spalten,
Salbet oben, salbet unten,
Streicht sodann die Mittelstücke,
Redet Worte solcher Weise,
Redet selbst und läßt sich hören:
„Stehe auf von deinem Schlafe
Und erheb' dich aus dem Schlummer
Von der überschlechten Stelle,
Von dem unheilsvollen Lager!“[86]
 
Schließlich erwacht Lemminkäinen aus dem Todesschlaf. Für Kouvalainen ist diese Geschichte bedeutsam, weil sie neben den Mühen, einen Toten wieder zum Leben zu erwecken, auf ergreifende Weise den Schmerz eines Familienmitglieds im Falle einer Krankheit oder des Todes eines geliebten Menschen beschreibt.[87]
 
Zusammenfassung:
Anhand der hier vorgestellten Beispiele aus finnischen „synty“-Versen und Passagen aus der Kalevala kann man ersehen, dass es in der traditionellen finnischen Medizin bis zum 19. Jahrhundert zu einem Zusammenspiel von magischen Praktiken, mechanischen Anwendungen, wie beispielsweise dem Anlegen von Wickeln und der Verwendung von Moos zur Blutstillung, sowie der Anwendung von Arzneimitteln, wie Salben kam. Leider gibt es bislang über andere zur Anwendung gekommenen Arzneien wenig wissenschaftliche Arbeiten und sie sind im Unterschied zu den magisch-schamanischen Praktiken der „loihtia“ bzw. „tietäjä“ und der diesen zugrundeliegenden Krankheitsvorstellungen wenig erforscht. Aber sowohl aus den von Zimmermann beschriebenen Teilen der „synty“-Verse als auch aus den von Kouvalainen untersuchten Kalevala-Versen kann entnommen werden, dass Salben in der traditionellen Medizin der Finnen eine bedeutende Rolle spielten. Wie sich diese Salben zusammensetzten und ob sie Zutaten wie Honig, Harz oder Kräuter enthielten, ist spekulativ, kann aber vermutet werden.[88] In der Kalevala werden zahlreiche Pflanzen und Bäume erwähnt, die von den Finnen sowohl als Nahrungsmittel als auch als Mittel zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit genutzt wurden.[89] Heute geht man davon aus, dass ca. 30 Pflanzen der finnischen Flora als Nahrungs- bzw. Heilmittel genutzt werden. Weitere 70 Pflanzen kommen seltener zum Einsatz.[90] Elias Lönnrot, der in vielerlei Hinsicht für das historische und nationale Bewusstsein der Finnen von immenser Bedeutung ist, veröffentlichte 1860 als Erster eine wissenschaftlich fundierte Zusammenstellung der finnischen Flora unter dem Titel Flora Fennica (Suomen Kasvisto, Finnische Flora). Über Jahre hatte er dazu verschiedene Informationen über die bei seinen Wanderungen durch die finnische Natur aufgefundenen Pflanzen gesammelt und auch erstmals schriftliche Angaben zur ihrer Verwendung gemacht.[91] Hier fände sich ein weiterer Ansatz zur Erforschung der traditionellen finnischen Medizin.
 
Autorin: Stefanie Boman-Degen
 

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