Zeitenwende – die Entwicklung der Schule für alle im 20. Jahrhundert (pl)
Das 19. Jahrhundert verabschiedete sich bildungspolitisch mit dem 1898 erlassenen, noch heute gültigen Bezirksverordnungsgesetz, das Kommunen (im Teil 1 wurde versehentlich von Pfarreien gesprochen) verpflichtete, ihre Fläche in Schulbezirke einzuteilen, damit Schüler*innen nicht mehr als fünf Kilometer Schulweg haben. Daraufhin wurden viele kleine Volksschulen in dem damals flächenmäßig großen, aber mit weniger als drei Millionen Menschen dünn besiedelten Land errichtet. Die kirchlichen Wanderschulen wurden jedoch nicht verdrängt, im Gegenteil, sie nahmen deutlich zu. Das lag u.a. daran, dass es zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wie auch heute nicht, keine Schulpflicht gab. Erst die Oktoberrevolution 1917, die am 6. Dezember 1917 zur finnischen Unabhängigkeit führte, bereitete den Weg zur Lernpflicht und damit zum kostenlosen Zugang zur Volksschule. Lernpflicht bedeutet, dass zwar fast alle Kinder zur Schule gingen und gehen, doch zurzeit ca. 400 Kinder im lernpflichtigen Alter von der Schulbehörde kontrollierten Unterricht zu Hause erhalten.
Die Lernpflicht änderte viel, aber in den kommenden Jahrzehnten der finnischen Unabhängigkeit gab es noch kein gleichwertiges Bildungssystem. Finnland musste zunächst die Folgen des viermonatigen blutigen Bürgerkriegs 1918 vearbeiten. Ferner stieg die Geburtenrate stark an und wegen der kostenlosen, kommunalen Eltern-Kind-Beratungsstellen Neuvola (ab 1944) sank die Kindersterblichkeit enorm, was zum Aufbau neuer Schulen führte.
Bis 1952 konnten die Reparationszahlungen an die Sowjetunion beglichen werden, was dank eines gezielten Wandels der Wirtschaftsstruktur und Industriezweige gelang. Land und Forstwirtschaft prägten das Land zuvor, aber nach 1945 entwickelte es sich rasant schnell zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Die Landflucht, das enorme Ungleichgewicht des Bildungsangebots im ländlichen und städtischen Raum und das damalige selektive Bildungssystem wurde immer mehr Gegenstand öffentlicher Kritik. Jukka Sarjala, Leiter des Zentralamtes für Unterrichtswesen von 1995 bis 2002, schrieb in seinem Buch "Jenseits von Pisa" (2008) daher: >>Zweigliedrige, ständisch orientierte Bildungssysteme gehen von einem wirklichkeitsfremden Menschenbild aus, das Schüler in theoretisch akademisch und handwerklich begabte einteilt. Vergessen wird bei dieser Vorstellung, dass Schüler einfach verschiedenartig sind und lernen.<<
Finnland erkannte, dass das alte System grundlegend geändert werden musste, da es von zu vielen Zufällen wie Wohnort, sozioökonomischem Hintergrund etc. abhängig war. Der entscheidende Motor der Veränderung war der Wunsch nach mehr sozialer Gerechtigkeit, indem gefordert wurde:
- Im Sinne der Gleichwertigkeit muss jedes Kind das Recht haben, unabhängig vom Wohnort, sozialer Herkunft oder finanzieller Lage, kostenlos zu einer gemeinsamen neunjährigen grundbildenden Schule zu gehen.
- Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Bedingungen haben sich verändert und der Lebensstandard ist höher, sodass dies eine Veränderung schulischer Bildung erfordert.
- Das Bildungsniveau der Nation soll deutlich angehoben werden (vgl. Domisch 2012).
1968 wurde der Gesetzentwurf über die Lernpflicht in einer neunjährigen grundbildenden Schule, der Gemeinschaftsschule, mit den Stimmen aller großen Parteien mehrheitlich verabschiedet. Vier Jahre wurden im Land verteilt Schulversuche mit Evaluationen durchgeführt, bis dann von 1972 bis 1977 – zuerst in Lappland, zuletzt in Helsinki – die Schulreform umgesetzt war. Andere entscheidende, zukunftsweisende Maßnahmen gingen damit einher, u.a. Anhebung der Lehrerausbildung auf Master-Niveau (MA), Veränderungen der Lernförderung (Abschaffung der sogenannten Hilfsschulen in den 1980er Jahren), Einrichtung des Bildungsforschungsinstituts 1968 (Uni Jyväskylä).
Die Grundsäulen der Gemeinschaftsschule sind bis heute geblieben, bestehend aus:
- einer neunjährigen, für die jeweilige Altersgruppe gemeinsamen Grundbildung, in der von Schulbüchern, Bleistiften (es gibt keine Füller), Heften, Radiergummis, Materialien für den Werk-, Handarbeits- oder Hauswirtschaftsunterricht bis hin zum Schulessen alles kostenlos ist.
- Kl. 1-6: Klassenlehrer/luokanopettaja unterrichten praktisch alle Fächer und haben ein Master Degree (MA). Fremdsprachen, Werken, Technik, Textilarbeit, oft Sport und Musik hingegen von Fachlehrern/aineenopettaja (MA).
- Kl. 7-9 hat eine gruppenbetreuende Lehrkraft, die Kontakt zu den Erziehungsberechtigten hat und Ansprechpartner ist. Alle Fächer werden von Fachlehrern/aineopettaja mit MA unterrichtet, wie z. B. Hauswirtschaftslehre in Kl. 7, später als Wahlfach.
- Schülerbetreuung auf individueller Ebene u.a. durch Förderunterricht, Gesundheitspflege (Fortsetzung von neuvola), Schulpsychologe und -sozialarbeiter als Bestandteil aller Gemeinschaftsschulen sowie der gymnasialen und berufsbildenden Oberstufen ebenso wie eine schulinterne Schülerbetreuung durch in den Schulen integrierte multiprofessionelle Teams und Zusammenarbeit mit den Eltern.
Inzwischen sind über 50 Jahre Erfahrungen mit der Gemeinschaftsschule gesammelt und im Bildungssystem Veränderungen durchgeführt worden, wie die meist im Abstand von zehn Jahren neu erscheinenden Rahmenlehrpläne, Abschaffung der Schulinspektionen in den 1980er Jahren etc.
Entscheidend für Lernprozesse in schulischer Bildung ist nicht nur, dass ein politischer, gesellschaftlicher Konsens über das hiesige Bildungssystem herrscht, sondern eine vertrauensvolle, durchaus kritische Basis zwischen Lehrenden, Lernenden, Erziehungsberechtigten und staatlichen Institutionen existiert und damit eine wichtige Voraussetzung für alle Lernprozesse gewährleistet ist: die Arbeitsruhe (työrauha).
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Wohlfühlort Schule (ami)
"Unter Schülerfürsorge versteht man die Förderung und Bewahrung eines guten Lernverhaltens, der geistigen und körperlichen Gesundheit sowie des sozialen Wohlbefindens der Schüler sowie Aktivitäten, die die Bedingungen hierfür in der Schulgemeinschaft verbessern. Die Schülerfürsorgearbeit orientiert sich an dem Grundsatz des Kindeswohls und der Förderung des Wohlergehens des Kindes." Schülerfürsorgegesetz (fi. oppilashuoltolaki) von 2023/oph.fi
Das Verständnis der Schule als ein Ort des Wohlbefindens und Wohlergehens sowohl der Schüler als auch des Personals geht weit über eine sichere, saubere und funktionierende Infrastruktur, eine tägliche kostenlose warme Mahlzeit und kostenlose, frei verfügbare gesundheitliche, soziale und psychologische Dienste an jeder Schule hinaus. Es ist vor allem eine Einstellungsfrage, die sich vereinfacht auf das Motto reduzieren lässt: Wohlergehen vor Lernerfolg bzw. wenn es dem Kind oder Jugendlichen physisch, psychisch oder sozial nicht gut geht, kann es nicht lernen.
Um Auffälligkeiten sofort auf den Grund gehen zu können, stehen bereits ab dem vorschulischen Alter multiprofessionelle Fürsorge-Teams (s.o.) zur Verfügung, die das Wohlfühlklima an der Schule mitbestimmen und bei Bedarf auch im Einzelfall zusammentreten und beraten. "Wehret den Anfängen" lautet die Devise und Vorbeugen ist besser als heilen. So ist selbstverständlich auch die Schülerschaft einbezogen, ihre Schule zu gestalten und Vorschläge für Aktionstage, Pausenaktivitäten oder Anschaffungen zu machen.
Um das Thema präsent zu halten und allen bewusst zu machen, erstellen Kinder und Erwachsene einer Schule gemeinsam eine "Jahresuhr des Wohlbefindens" mit monatlich wechselnden Themen und in fast jeder Klasse hängt ein fiilismittari, ein Gefühlsbarometer.
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Huhu huhu! Schule in Finnland: Wahrheit oder Huhu (fi., dt. "Gerücht")?
1. Die Schulen sind Ganztagsschulen.
2. Es gibt keine Hausaufgaben.
3. Die Fächer wurden abgeschafft.
4. Die Schreibschrift ist abgeschafft.
5. Geschrieben wird nur mit dem Bleistift.
6. Schüler und Lehrer tragen Hausschuhe oder Socken.
7. Die Schule beginnt frühestens um 8 Uhr.
8. Finnland hat die längsten Sommerferien.
9. Alle Lehrmaterialien sind digital.
10. Schulen können jedes beliebige Fach anbieten.
Lösungen
Wahrheit: 5, 6, 7, 10
Gerücht: 1, 2, 3, 4, 8, 9
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